Nachrichten zur akustischen CR-Neuromodulation (ANM)
Coordinated Reset (CR®)-Neuromodulation
Der in Jülich entwickelte und von der Firma ANM intensiv beworbene Neuromodulator, anfangs noch Neurostimulator genannt, wurde 2010 von einigen Beiratsmitgliedern der DTL ausgiebig diskutiert. Dabei ging es um die durchgeführte Studie an Patienten. Beleuchtet wurden die angegebene Verbesserungsquote und eine mögliche Verschlechterung des Tinnitus durch diese Therapiemaßnahme. Die Firma ANM wirbt bei Patienten damit, dass das Gerät zugelassen sei. Die Zulassung des Gerätes laut Medizinproduktverordnung bedeutet aber nicht die Wirksamkeit des Gerätes, sondern nur die Unbedenklichkeit, wenn ein solches Gerät direkt am menschlichen Körper getragen wird. Unter diese Verordnung fallen zum Beispiel auch Hörgeräte und andere elektrische Geräte, die an Patienten eingesetzt werden.
Prof. Tass wurde zum Treffen der Klinikvertreter im Februar 2010 nach Kassel eingeladen. Er berichtete ausführlich über den ANM, die Probanden und die Studienergebnisse. Auch auf einer Tagung der DGA (Deutsche Gesellschaft für Audiologie) in Frankfurt stellte er sein Konzept vor. Sowohl auf dem Treffen der Klinikvertreter als auch beim DGA-Treffen unterhielten sich Vertreter des Fachbeirates der DTL mit Prof. Tass und setzten sich mit der Methode auseinander. Da wir in der DTL sehr kompetente Fachleute haben, ist deren Bewertung der Methode für uns maßgeblich.
Wir vertreten seit 2010 daher die Auffassung, dass für dieses Gerät bislang kein Wirksamkeitsnachweis vorliegt. Die derzeit uns vorliegenden Daten reichen u. E. nicht aus, um eine gültige Aussage zur Wirksamkeit und zur Sicherheit dieser Behandlungsmethode zu treffen.
Unsere Empfehlung zur Zurückhaltung wurde 2012 in einem öffentlichen Schreiben ("Letter to the Editor") von Prof. Gerd Antes, Direktor des renommierten und unabhängigen German Cochrane Center, Institut für Medizinische Biometrie und Medizinische Informatik, Universitäts-Medizin-Zentrum Freiburg, Deutschland, und seiner Mitarbeiterin Gerta Rücker an die Herausgeber der wissenschaftlichen Zeitschrift Restorative Neurology and Neuroscience, Vol. 30 (2), 2012, bestätigt und in unserer Haltung noch übertroffen. Die Freiburger kritisieren die Publikation "Counteracting tinnitus by acoustic coordinated reset neuromodulation" von Tass et al. in dieser Zeitschrift mit folgendem Text, der unserem fachlichen Beirat vorgelegt wurde und uns freundlicherweise von Prof. Gerhard Hesse als Übersetzung zur Veröffentlichung auf unserer Homepage zur Verfügung gestellt wurde.
Letter to the Editor
"Sehr geehrter Herausgeber,
in der veröffentlichten Studie stellten Tass und Mitarbeiter die wissenschaftliche Frage, ob eine spezielle Behandlung eine Verringerung der Tinnitussymptome über einen bestimmten Zeitraum bewirkt. Das Design der Studie beschrieb eine prospektive, randomisierte, einfach verblindete, Placebo-kontrollierte Untersuchung an 63 Patienten, unterteilt in fünf Behandlungsarme. Zur statistischen Auswertung hätten wir einen direkten Vergleich erwartet, etwa als Kovarianzanalyse (ANCOVA), bei der visuelle Analogskalen (VAS) und der Tinnitusfragebogen (TF) zur Ergebnissicherung dienen (Senn, 2006). Die Ausgangswerte könnten dabei als Kovariable dienen, besonders deshalb, da wegen der kleinen Patientenzahl und der großen zusätzlichen Unterteilung in fünf Therapiegruppen es notwendig erscheint, diese Basiswerte bezüglich ihrer Differenzen anzupassen.
Aber in mehr als 20 Seiten dieses Artikels finden wir keine derartige Analyse. Wir finden Vorher-Nachher-Vergleiche für jeden Therapiearm, die jedoch für sich allein keinen validen (gültigen) Vergleich zwischen den Gruppen erlauben. Vielmehr fehlt eine präzise Beschreibung sowohl der Gruppen als auch der Behandlungen. Eine derartige Definition hätte in den Absatz 2.1 (Studienteilnehmer) oder Absatz 2.3 (Studiendesign) gehört.
Stattdessen fanden wir eine Reihe von Mängeln und überraschenden Analysen:
Die Gesamtzahl der Studienteilnehmer liegt weit unterhalb der für eine valide Untersuchung von Therapieeffekten erforderlichen Anzahl, besonders weil es sich um fünf Therapiearme handelt. Zusätzlich verletzt die Verteilung der Teilnehmer auf die einzelnen Gruppen grundlegende Prinzipien der Statistik. Die Gruppen sollten eine gleiche Größe haben oder, wenn sie ungleich sind, sollten zumindest mehr Teilnehmer der Gruppe zugeordnet werden, die als Vergleich dient, das heißt der Placebogruppe. Da die Placebogruppe aber nur fünf Teilnehmer hat, sind Feststellungen über die Effektivität der Behandlung bedeutungslos.
Im Absatz 2.4. wird eine unnötig komplexe Distanzmessung definiert, die völlig überflüssig wäre, hätten die Autoren eine ANCOVA-Auswertung durchgeführt.
Im Absatz 3.1.2 werden "gleich große, zusammenpassende Untergruppen" gebildet, was völlig unnötig ist, da die Gruppen vorher randomisiert worden waren. Und was gewinnt man durch die Bildung von Untergruppen, wenn die Gruppen selbst nur eine Größe von um die zehn Personen haben?
Im Absatz 3.1.3 und der Tabelle 4 wird ein gepoolter Vergleich zwischen "effektiven" und "ineffektiven" Stimulationsgruppen präsentiert. Wir verstehen dieses Vorgehen als einen post-hoc-Vergleich (im Nachhinein erstellt) zwischen Studienarmen, die später passend zusammengestellt wurden. Allerdings fanden wir auch hier nur Vorher-Nachher-Vergleiche, aber keinen direkten Vergleich zwischen den randomisierten Armen.
Ein Satz in Absatz 4.1, der auch im Abstrakt aufgeführt wird, stellt fest: "Eine Verbesserung ... wurde bei 75 Prozent der Patienten erreicht mit einer mittleren Verringerung auf der TinnitusSkala (TF) um 50 Prozent bei denen, die auf die Therapie ansprachen (Responder)." Das Problem mit dem zweiten Teil dieses Satzes ist, dass die Autoren sich nicht etwa auf eine mittlere Verringerung im Tinnitus-Fragebogen (TF) aller behandelten Patienten beziehen, sondern nur auf die "Responder", wie auch immer diese definiert werden. Nun ist es aber immer möglich, eine Definition für eine Reaktion auf die Behandlung (Response) zu finden, so dass Responder einen beeindruckenden Therapieerfolg zeigen, während die Non-Responder nicht erwähnt werden. Daher ist eine Analyse, die nur auf den Therapie-Respondern beruht, sehr wahrscheinlich verzerrt (Senn und Julious, 2009).
Weil diese Studie momentan die einzige randomisierte kontrollierte Studie (RCT) ist, die versucht, die Wirksamkeit der akustischen CR-Neuromodulation nachzuweisen, bestehen schwere Bedenken, die uns feststellen lassen, dass es nach wie vor keinen ausreichenden Nachweis gibt, um diese Technik für die klinische Anwendung zu empfehlen."
Tass et al. wurde dieses Schreiben vom Herausgeber der Zeitschrift zur Stellungnahme vorgelegt. In ihrer ausführlichen Replik auf diese Kritik gehen Tass et al. jedoch mit keiner Silbe auf die einzelnen Kritikpunkte ein. Vielmehr wiederholen sie die Aussagen, dass diese Studie eindeutig die Wirksamkeit nachgewiesen habe. Sie führen sogar aus, die CR-Modulation habe als einzige einen Effekt auf die wirkliche pathophysiologische Tinnitusursache, während alle anderen Therapien (TRT, Verhaltenstherapie) nur die Reaktionen auf den Tinnitus beeinflussten.
Daher rät die DTL zum jetzigen Zeitpunkt weiterhin von dieser Therapie ab. Sobald umfassendere Daten vorliegen, kann eine Neubewertung des Verfahrens vorgenommen werden.
P. S.: Der Brief an den Editor von Rücker und Antes und die Replik von Tass et al. können im Internet eingesehen werden:
Brief an den Herausgeber ("Letter to the Editor"):
RestorNeurolNeurosci. 2013 Jan 17. [Epub ahead of print]
Reply to Tass et al. on "Counteracting tinnitus by acoustic coordinated reset Neuromodulation". In: Restorative Neurology and Neuroscience Vol. 30 (2), 2012.
Rücker G, Antes G.
Die Antwort von Tass et al.:
Rebuttal to reply by G. Rücker and G. Antes on Tass et al. "Counteracting tinnitus by acoustic coordinated reset Neuromodulation", Restorative Neurology and Neuroscience Vol. 30(2), 2012.
Tass, P. A., Adamchic, I., Freund, H. J., von Stackelberg, T., Hauptmann, C.
Restor Neurol Neurosci. 2013 Jan 11. [Epub ahead of print] No abstract available.
Die Publikationen sind bislang nur online publiziert, liegen also in Print noch nicht vor. Sie sind über den Online-Zugang der Unis (hier PubMed) zugänglich. Das Dokument trägt den Zusatz "uncorrected author proof" bis zur Herausgabe, um Vorveröffentlichungen zu verhindern, ist aber trotzdem authentisch.